„O Anfang sonder Ende?“ - Thesen zur Identifizierung
des „Leipziger“ Hauptlibrettisten
Johann Sebastian Bachs
Michael Hochgartz (D 48153 Münster)
michael@hochgartz.de
Aktuelle Version: 21.04.2024
Quelltext, Versionsgeschichte und Literaturverzeichnis: https://github.com/michael-hochgartz/lectio-brevior
Amore et studio elucidandae veritatis haec subscripta disputabuntur (Martin Luther 1517)
… nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre … (Bernardus Carnotensis, um 1120, auf den Schultern Ovids sitzend)
Pro captu lectoris habent sua fata libretti (nach Terentianus Maurus)
- Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen zur namentlichen Ermittlung des „Leipziger“ Hauptlibrettisten Johann Sebastian Bachs ist die Annahme, dass die Entstehung der anonym überlieferten Texte für einen bedeutenden Teil der für die regulären Sonn- und Festtage zwischen Trinitatis 1724 und Annuntiatio Domini 1725 entstandenen geistlichen Vokalwerke zwar aufgrund eines Benehmens zwischen den Beteiligten (Autor, Komponist; Prediger; Zensor und Korrektor) stattfand, nicht aber an demselben Ort wie die Komposition der Musik.
Der auf knapp drei Dutzend Produktionswochen verdichtete Prozess war vielmehr geprägt durch eine - auf den ersten Blick kontraproduktiv wirkende, bei näherer Betrachtung jedoch konstitutive - räumliche Distanz zwischen Autor und Komponist, die eine Übermittlung des Materials in Form von zusammenfassenden Lieferungen nach sich zog, deren Stückelungen den Anforderungen der vorauszuplanenden Drucklegungen für die in Leipzig üblichen, für den Komponisten (entgegen Heber 2017) durchaus auch als Einnahmequelle relevanten Sammellibretti entsprechen mussten.
Unter der Voraussetzung, dass Komposition und Uraufführung der Kantaten in der Regel sukzessive in wöchentlichem, Herstellung (inklusive Imprimatur und Korrektur) der Texthefte aber stets vorab en bloc in fünf- bis achtwöchigem Turnus erfolgte (vgl. Hobohm 1973; Scheide 1976), wären Einzellieferungen über eine größere Entfernung für Absender und Empfänger ohne erkennbaren Vorteil und für Letzteren überdies mit überflüssigen Portokosten sowie mit einem erhöhten Verlustrisiko verbunden gewesen.
In der Extremsituation zwischen dem 25.12.1724 und dem 7.1.1725, als in 14 Tagen sieben Neukompositionen zu realisieren waren, wären alle zwei Tage eintreffende Postsendungen mit je einem Kantatentext genauso inpraktikabel gewesen wie eine stückweise erfolgte persönliche Übergabe durch einen vor Ort agierenden Dichter. Stattdessen bot die Einhaltung eines standardisierten Lieferrhythmus dem Komponisten auch in diesem Fall mehrere Kalenderwochen zusätzlicher Arbeitszeit bei der Vertonung. (Vgl. Petzoldt 2000; sowie DOK V/185a zu dem in Leningrad nur noch in Form einer Karteikarte aus dem Jahr 1919 nachgewiesenen, derzeit verschollenen „Libretto Nr. 9“, das mit dem 5.11.1724 beginnt und mit dem 3.12.1724 endet.)
Aus denselben Erwägungen ist (zumindest für Bachs schöpferische Höchstphase 1723-1727) auch die von Friedrich Rochlitz (geb. 1769) überlieferte Aussage anzuzweifeln, der Thomaskantor (gest. 1750) habe „jedesmal zu Anfang der Woche“ seinem theologischen Vorgesetzten, dem Superintendenten Salomon Deyling (gest. 1755), drei Kantatentexte zur Auswahl für die Aufführung am nächstfolgenden Sonntag vorgelegt. (Vgl. Hobohm 1973). Ein solches Verfahren hätte jegliche Druckplanungen sabotiert. Zudem bliebe zu fragen, wie Bach seine Textdichter - erst recht unter permanentem Zeitdruck - zu dem Luxus alternativer Entwürfe mit jeweils identischem Perikopenbezug bewogen haben könnte, die dann mehrheitlich für den Papierkorb bestimmt gewesen wären.
Selbst in der Phase extensiver Wiederholungsaufführungen ab 1730 hätte ein solches Verfahren den Wechsel zu wöchentlichen Einzeldrucken zur Voraussetzung gehabt, welche die Aufwände für Herstellung und Logistik vervielfacht und Bachs Nettoerträge geschmälert hätten.
Und auch eine nur teilweise Übernahme fertiger Jahrgänge anderer Komponisten (z.B. Johann Ludwig Bach) bzw. Autoren (z.B. Christiane Mariane von Ziegler) wäre mit dem geschilderten Prozess nicht kompatibel gewesen.
Man wende Rochlitzens Behauptungen als Gedankenexperiment auf die Ziegler-Texte oder gar auf den kompletten Picander-Jahrgang an - was bei letzterem zwar zu Folgehypothesen verlocken könnte, deren Erkentnisgewinn allerdings sehr begrenzt sein dürfte.
Ungeklärt bleibt schließlich, ob die übrigen Prediger (Christian Weise d.Ä., Urban Gottfried Sieber u.a.) ähnlich verfuhren (womit sich das Planungschaos multipliziert hätte), ob sie sich von Deyling in dieser Hinsicht bevormunden ließen (notwendigerweise bei Doppelaufführungen desselben Werks in St. Nicolai / St. Thomas an hohen Festtagen), oder ob sie Bach freie Hand gewährten - um den Preis einer unziemlichen Desavouierung ihres gemeinsamen Vorgesetzten.
Der einzige, aus systemischer Sicht mögliche Erkenntnisgewinn, der sich bei einer Akzeptanz des von Rochlitz geschilderten Verfahrens ergeben könnte, bestünde in der Konsequenz, dass in diesen Fällen der Predigttext dem Kantatentext entstehungsgeschichtlich folgen musste - und nicht umgekehrt. Auch dort, wo Letzterer (wie bei nicht wenigen der „Perikopen-neutralen“ Choralkantaten zwischen Trinitatis und Advent) nur eine schwache Konnotation zur biblischen Thematik des Tages aufweist. Oder aber Deyling zielte ab auf eine optimale Wiederverwertung vorhandener Predigtmanuskripte, von denen sich leider kein einziges erhalten hat.
Als mögliches Fazit aus diesem Befund bliebe die Annahme, dass Bach während seines vokalkompositorischen „Vorruhestands“ (ab Anfang der 1730er Jahre) Deyling in der Tat regelmäßig mehrere - eigene wie fremde - Kompositionen aus seinem Fundus zur Auswahl vorgelegt haben könnte. Allerdings nicht wöchentlich, sondern angepasst an den Publikationsrhythmus der Texthefte.
Schließlich bleibt zu bedenken: auch der produktivste Komponist protestantischer Kirchenkantaten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts - Georg Philipp Telemann - verbrachte nur jeweils begrenzte Zeiträume in künstlerischer Koexistenz an denselben Orten wie seine Textdichter (Neumeister; Helbig; Simonis; Brandenburg; …) - war also zeitweise auch auf briefliche Kommunikation und ansonsten auf gedruckte Quellen oder seine eigene Erfindungsgabe angewiesen.
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Die Texte, die für den 1724/25 von Johann Sebastian Bach in bewusster Erinnerung an die Geburtsjahre der deutschsprachigen lutherischen Kirchenmusik 1524/25 (vgl. Busch 1724; neuerdings auch Leaver 2018, Marshall 2019 und viele andere) als Zyklus inklusive einer großen oratorischen Passion geplanten Typus der Choralkantate verfasst wurden, stammen - unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Verwendung - von ein und demselben Autor.
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Dieser Autor war möglicherweise auch schon für einzelne Texte des extrem heterogenen „Jahrgangs“ 1723/24 verantwortlich - z.B. BWV 60.
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Grund für den vorzeitigen Abbruch der Vertonung des Choralkantatenjahrgangs war (wie u.a. von Marshall 1972 und von Krummacher 1995 unspezifisch vermutet, von Schulze 1999 beiläufig systemisch analysiert und personenbezogen präzisiert, von Wolff 2000 einstweilen akzeptiert, 2020 und 2021 jedoch explizit ignoriert und u.a. von Petzoldt 1999, Geck 2000, Leisinger 2002, Walter 2006, Braatz 2007a, Zedler 2007, Walter 2012, Bärwald 2012, Rathey 2012a, Klek 2015, Marquard 2019, Maul 2023 mit unterschiedlichen Zielrichtungen diskutiert) der plötzliche, dauerhafte Ausfall des Autors Ende Januar 1725.
Ein in Teilen der Fachliteratur (vgl. z.B. Gardiner 2013) unterstellter Erschöpfungszustand des Komponisten mag zwar existiert haben, taugt aber nicht als Erklärungsgrundlage für die zwar zeitverzögert wirkende, ursächlich aber spontan bedingte Beendigung dieses in der Musikgeschichte einzigartigen Projekts, da für die Vollendung des Zyklus und der Passion im Tempus clausum während der ca. vierzigtägigen Fastenzeit eine hinreichende (vgl. Stauber 2020) - und für die verbleibenden gut ein Dutzend Kantatentermine zwischen Ostern und Trinitatis mit ca. 12 Wochen sogar eine ganz gewöhnlich bemessene - Zeit für eine geordnete Vollendung nach Bachs vorweihnachtlichem Standardrhythmus vorhanden gewesen wäre.
Im übrigen verursachten Erstellung bzw. Umarbeitung der nachgewiesenen Kompositionen auf alternative, kaum (BWV 4) bis gar nicht (Ziegler) in das formale Grundkonzept des Zyklus passende Texte bis zum Ende des laufenden Schuljahrs (Trinitatis 1725) organisatorisch und intellektuell mindestens identische, emotional vielleicht sogar überdurchschnittliche Unkosten.
Offensichtlich fiel Bach nach dem Tod seines „Leipziger“ Hauptlibrettisten in jenen 1723/24 praktizierten Improvisationsmodus zurück, den er ab Januar 1725 wieder aufnahm.
Die Tatsache, dass bis heute keine Parallelvertonung aus diesem Textkorpus durch einen anderen Komponisten bekannt geworden ist (so schon Krausse 1986), lässt sich als Indiz dafür werten, dass das handschriftliche Material Bachs und des Autors Besitz zu Lebzeiten niemals geordnet verlassen hat - und auch nicht den der jeweiligen Nachkommen.
Da aufgrund dieses Befunds nicht damit zu rechnen ist, dass jemals ein - zwangsläufig nur posthum denkbarer - Sammeldruck des unvollständigen Jahrgangs in Form eines (urheberische Initiativen oder gar verlegerische Investitionen der Erben) erfordernden Buches auftauchen könnte, das analog zum Fall J.C. Birckmann (vgl. Blanken 2015) eine Attribution anhand textlicher Konkordanzen ermöglichen würde, müssen andere Ansätze zur Identitätsermittlung herangezogen werden.
Diese konzentrieren sich auf die Suche nach einem Anfang 1725 plötzlich verstorbenen lutherischen Theologen mit dichterischer Kompetenz, homiletischer Reputation, hymnologischem Hintergrund und untadelhaftem Lebenswandel - allerdings ohne (anders als Schulze 1999 und die ihm Folgenden) Leipzig als Lebensmittelpunkt zur impliziten Conditio sine qua non zu machen.
Eine alternative Fokussierung auf eine - adelige, intellektuell hoch qualifizierte, tief im frühen sächsischen Pietismus verortbare - Laien-Theologin, die zum 1.1.1725, nach fortgesetzten, an ihrer Handschrift erkennbaren gesundheitlichen Beeinträchtigungen, ihr letztes nachweisbares dichterisches Elaborat verfasste, erweist sich allein deshalb als nicht zielführend, als ihr - durchaus umfangreiches, theologisch nicht unkreatives - posthum dokumentiertes poetisches Gesamtwerk kaum über das stumpfe Abspulen von regelpoetischen Standardforme(l)n hinauskam. Zudem starb sie erst 1726.
Auch Salomon Franck - unbestreitbar Bachs Weimarer Hauptlibrettist - käme theoretisch aus biographischen Gründen als Kandidat in Frage. Es ist allerdings nicht bekannt, ob seinem Tod am 1.7.1725 eine Erkrankungsphase voraus ging, die ihn just Ende Januar 1725 die literarische Arbeit einzustellen zwang.
- Auch aus der Tatsache, dass der Autor des (ansonsten idealtypisch - inklusive überjähriger Termine - angelegten) Choralkantatenjahrgangs auf die Lieferung von Texten für den Ratswechsel und für das Reformationsfest 1724 verzichtete, lässt sich ableiten, dass sein Wirkungskreis eher außerhalb Leipzigs bzw. außerhalb Kursachsens zu suchen ist.
Dazu passt die Beobachtung, dass in der Kantate BWV 93 das Luther-Zitat aus Kön2 4,38-41 („mors in olla“) nicht in der obersächsisch-böhmischen Form („Der Tod im Topf“) sondern als thüringisch-niedersächsische Variante („Der Tod in Töpfen“) verwendet wird - vorausgesetzt, der sprachlich in Thüringen (zeitweise aber auch in Niederdeutschland) sozialisierte Komponist gibt hier die Formulierung des Dichters unverändert wieder.
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Derselbe Autor hat möglicherweise auch die Textauswahl und das theologische Konzept für die am Karfreitag 1724 aufgeführte Johannes-Passion (BWV 245 Fassung I) mitgestaltet.
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Von diesem Autor stammen ebenfalls das theologische und das hymnologische Konzept sowie die bis dahin vorliegenden Teile der „Poesia“ für eine Anfang 1725 abgebrochene, spätestens 1729 durch Christian Friedrich Henrici vervollständigte Urfassung der Matthäus-Passion, die als integraler Teil des Choralkantatenjahrgangs geplant war. (Zur Grundidee vgl. Chafe 1982 und deren nicht unangreifbare, vom Verfasser selbst als „betont rüde“ bezeichnete Zurückweisung durch Dürr 1988 und besonders 1990; ferner weniger spezifisch Leisinger 2002 und mit anderem Begründungszusammenhang auch Gardiner 2013.)
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Einziger Grund für die vorzeitige Wiederaufführung einer provisorisch modifizierten Version der Johannes-Passion (BWV 245 II) am Karfreitag 1725 war der Ausfall des Autors als Librettist einer für diesen Termin vorgesehenen Erstaufführung der Matthäus-Passion BWV 244b. (Vgl. Brischwein 2001; Leisinger 2002; Gardiner 2013; Glöckner 2022.) Das von Leisinger (2002) angedachte, von Walter (2016) bekräftigte Postulat einer beabsichtigten, auf einem einzigen Choral („O Mensch bewein“) basierenden Passion wird damit überflüssig.
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Anhand der (vielleicht schon während seiner Leipziger Studienzeit in seinen Besitz gelangten) Relikte einer verschollenen, Anfang 1725 unvollständig gebliebenen, aus ungehefteten Papieren bestehenden, spätestens in den 1730er Jahren kompositions- und aufführungspraktisch obsolet gewordenen Konzeptpartitur der Erstfassung der Matthäus-Passion konstruierte Johann Friedrich Agricola zwischen 1755 und 1770 einen musikphilologisch elaborierten Partitur-Torso, der wesentlich durch seinen - naturgemäß nur retrospektiv verstehbaren - „non-finito“-Charakter bestimmt ist. (D-B Mus.ms. Bach P 26).
Als strukturelle Folie zur Darstellung des Umfangs fehlender Teile diente ihm eine zweiteilige Abschrift (D-B AmB. 6+7) der spätestens 1729 mit Textergänzungen durch die Hand Christian Friedrich Henricis vervollständigten, von Bach (während oder nach der Verwendung für die Köthener Tauermusik BWV 244a) neu geschriebenen Partitur der Frühfassung, die der Gelegenheitskopist Johann Christoph Farlau anhand einer (aus Naumburg beschafften oder in Leipzig vorgefundenen) Originalhandschrift angefertigt hatte. (Vgl. Wollny 2002).
Bei der Kollationierung der Vorlagen durch Agricola kam es zu der von Dürr (1972) editionstechnisch ungewohnt pragmatisch behandelten, gleichwohl von ihm (1974) aufgrund erheblicher Restzweifel exemplarisch dokumentierten, von Chafe (1982) kontrovers gedeuteten, von Glöckner (2004) im Sinne Dürrs akzeptierten, bislang ohne fundamentale Erklärung gebliebenen Kreuzkontamination von divergierenden Lesarten, die allenthalben durch Lesefehler des sichtlich überforderten Farlau und - in deutlich weniger Fällen als von Dürr unterstellt - durch kluge Konjekturen des kompositionserfahrenen Agricola überlagert wurden.
Diese Betrachtungsweise ermöglicht erstmals eine weitgehend widerspruchsfreie Erklärung der Herkunft der von Dürr (1974) als authentisch eingestuften (da durch das Autograph der Spätfassung P 25 indirekt bezeugten, als Trennfehler zu klassifizierenden) Lesarten in der Handschrift P 26, die Agricola nicht aus AmB. 6+7, sondern nur aus einer heute verschollenen originalen Entwurfspartitur bezogen haben kann - den eingangs postulierten Relikten vom Januar 1725 - deren abstrakter philologischer Status näherungsweise mit demjenigen der „Logienquelle Q“ bei der Überlieferung des Neuen Testaments vergleichbar ist.
Der Charakter der Handschrift P 26 ist somit keineswegs defizitär, wie seit Jahrzehnten von der Forschung in fast einhelliger Ratlosigkeit unterstellt wird, (etwa aufgrund einer auf den ersten Blick willkürlich erscheinenden Selektion durch den Schreiber), sondern erlaubt vielmehr durch seinen präzisen, erstaunlich modern wirkenden musikarchäologischen Ansatz bislang beispiellose Einblicke in Bachs Vorgehensweise bei der Entstehung eines seiner umfangreichsten Großwerke, dessen erster Versuch einer Niederschrift durch außergewöhnliche äußere Umstände in singulärer Weise beeinflusst worden war.
Insbesondere dokumentieren die Erscheinungsformen einiger Turbae-Chöre (z.B. Nr. 4d oder Nr. 41b) oder der Aria Nr. 20 als Momentaufnahmen unfertiger, aber als zielgerichtet erkennbarer Prozesse das Vorgehen des Komponisten bei der provisorischen Fixierung komplexer musikalischer Gedanken. (Vgl. Marshall 1972; 2011; sowie speziell zur Aria Chafe 1982.)
Selbst scheinbar nebensächliche, unmotiviert anmutende Details, wie die isoliert herausgehobene Platzierung des - gegenüber den später, durch Bachs gewohnt simple notationstechnische Handgriffe geradegerückten Varianten h-a-g bzw. g-a-h-a „falsch“ erscheinenden - provisorischen Zieltons a (hier noch ohne den ausgehaltenen Baßton G) in Takt 7 des Rezitativs Nr. 2 auf dem seltenen, deklamatorisch unkonventionell wirkenden, für den Sänger riskanten Vokal ü (nach explizitem, sonst meist fehlendem Taktstrich) und die am Ende dieser Wortfolge chromatisierte Schlußklausel („…gekreu………ziget werde“), deren erster notierter Ton nach einem Zeilenwechsel eine Rückbindung ins Nirwana aufweist, nämlich in den vorangehenden, noch leeren Halbtakt, vermögen die Annahme zu stützen, dass hier ursprünglich niemand anderes am Werk gewesen sein kann als der Komponist selbst.
Zudem konterkariert gerade dieses Beispiel Dürrs Verlegenheitshypothese einer außergewöhnlichen „Konjekturfreudigkeit“ Agricolas, der diesen extrem exponiert erscheinenden „Fehler“ (NBA, Krit. Bericht), der in diesem fragmentarischen Zustand des Satzbildes noch gar keiner war!, sicherlich mit einem Federstrich nach einem einzigen Blick in AmB. 6 oder P 25 oder durch eigene kompositorische Kompetenz hätte korrigieren können - wie Bach es bei der späteren Fertigstellung, als nach Aufschiebung des Harmoniewechsels G-(A7)-D6 (bedingt durch die buchstäblich überbordende Streichergloriole der Christusworte) um einen halben Takt die Vokalnote tatsächlich fehlerhaft wurde, durch Verkürzung des a mittels eines zusätzlichen Fähnchens, Anfügung eines Sechszehntel g und Voranstellung einer Achtelnote h dann auch selbst mit seiner typisch pragmatischen Eleganz tat.
Oder hatte Bach ursprünglich an dieser herausgehobenen Stelle (Vorankündigung des Verrats, wenige Takte nach Ende des dramaturgisch überwältigenden Exordiums und unmittelbar nach dem ersten Kurzauftritt des Haupt-Protagonisten) gar eine „vertikal“ dissonant definierte, wortverstärkende Harmonie im Sinn („angesprungene Dissonanz“), die sich im zweiten Anlauf - nach Ausformulierung der Streicherstimmen - „horizontal“ (also stimmführungstechnisch) als unausführbar erwies und deshalb die Degradierung des „ü“berbetonten Zieltons a zur Durchgangsnote erforderte? (Vgl. auch Leisinger 2002 zu BWV 245/12c und 245 13II.).
Ein ähnliches Bild bietet die offenbar vom Komponisten nachträglich geänderte Akzentsetzung in Takt 51 der Bass-Stimme im 5. Satz der Kantate BWV 20, die sich durch wenige Federstriche aus der vom Herausgeber vermuteten Urform erzeugen lässt. (Kritischer Bericht, S. 141.)
Unter diesem Blickwinkel betrachtet erscheint die Erklärung dieser in P 26 wie auf dem Präsentierteller platziert wirkenden Stelle als getreue Wiedergabe einer Bachschen Entwurfsskizze als alternativlos. Der Sachverhalt lässt sich analog zu einem Begriff aus der Kunstgeschichte so deuten, dass die in P 26 bezeugte rudimentäre Lesart den Ausgangspunkt für zwei, im Abstand jeweils mehrerer Jahre von Bach angebrachten„Pentimenti“ nachbildete, also jenen - bei Bach nicht in loco, sondern durch jeweilige Neuschrift überlieferten - „Reuestrichen“, die Maler wie L. da Vinci (Daumenstellung der Segenshand des ihm zugeschriebenen „Salvator Mundi“) oder Raffael (Augenstellung der „Sixtinischen Madonna“) zur nachträglichen künstlerischen Optimierung ihrer Werke anbrachten.
Andernfalls wäre mit dem - ebenfalls sikzzenhaften - Satz 4d zu fragen: „Wozu dienet dieser Unrat?“, den Agricola hier - mit dem später (aber noch vor der äußerlich routiniert wirkenden, strukturell aber durchaus komplexen buchbinderischen Vereinigung bald nach 1800) von unbekannter Hand um rezyklierbare Leerbögen erleichterten Manuskript aus ursprünglich IX plus VII Ternionen kostbaren, großformatigen Doppelpapiers der Mitwelt zu präsentieren versuchte - der Nachwelt aber bislang nur als Rätsel zu hinterlassen vermochte. (Vgl. den Katalog Poelchau 1832, der - anders als Dürr 1974 - offenbar noch um den Charakter als skizzenbasiertes Elaborat wusste: „… nach einer späteren Bearbeitung, von Agricolas Hand. Unvollständig.“)
Ferner: Belegt die durch Ziffern signalisierte Zählung von 18 bzw. 16 Pausentakten in fol. 43v und 44v der Partitur P 26, dass Agricola bei der Niederschrift dieses vollständig notierten Satzes (27b) an die Anfertigung von Aufführungsmaterial dachte? (Nach einer Grundidee von Kümmerling 1986.)
Die Antwort kann nur Nein lauten, denn Ziel von Agricolas Bemühungen war keineswegs eine Aufführung anhand von P 26. Eine solche hätte er durch Ausschreiben(lassen) von Stimmen nach AmB. 6+7 leichter verwirklichen können - oder am leichtesten, indem er seinen langjährigen Potsdamer Kollegen C.P.E. Bach um die leihweise Überlassung des kompletten, aufführungserprobten Materials der Spätfassung (D-B Mus.ms. Bach P 25 / D-B Mus.ms. Bach St 110) gebeten hätte.
Zudem bliebe zu fragen, warum er sich für die praktische Verwendung der Frühfassung interessiert haben könnte, die auch heute nur äußerst selten und aus eher akademischen Interessen herangezogen wird. Somit ist davon auszugehen, dass die numerisch markierten Pausentakte bereits in der Vorlage vorhanden waren, also auf den Komponisten zurück gehen.
Zu klären bleibt, warum Agricola in dieser Partitur Gebrauch von zahlreichen notationstechnischen Abbreviaturen macht („col vl. primo“ etc.; auch da, wo es sich kaum zu lohnen scheint) - wie sie für viele seiner übrigen Handschriften (auch eigener Kompositionen) typisch sind. (Vgl. dazu möglicherweise die 2021 an der Universität Oxford verteidigte Dissertation von Andrew Frampton, deren Digitalisat bis auf weiteres nicht zugänglich ist.)
Ohne weiteres erklärbar ist hingegen der Umstand, dass sich Agricola bei der Rekonstruktion des - in den Fragmenten naturgemäß noch fehlenden, in der Farlau-Kopie nur in kürzest möglicher Form vorhandenen Titels (Kopftitel und das später davon durch J.P. Kirnberger abgeleitete Einband-Etikett) - für eine repräsentative Lösung auf der Basis eines nicht erhaltenen Textdrucks entschied, dessen auf Vorrat erstellte Exemplare für mehrere geplante, jeweils handschriftlich zu ergänzende Aufführungstermine aus den 1730er Jahren bestimmt waren. (Zum Prinzip am Beispiel von BWV 247 vgl. Schabalina 2009).
Wortwahl und Zeilenfall weisen derart typisch auf einen vervielfältigten „Text zur Music“ hin, dass keine Zweifel an der Verwendung als bewusstes Versatzstück durch Agricola möglich sind - wenn die Intention durch Fortlassung des Präfixes „Texte zur …“ auf die Konstruktion eines repräsentativen Musiktitelblatts zielt.
Eine Originalpartitur als Vorlage scheidet wegen der handschriftlichen „Variable“ bei der letzten Ziffer des Datums (vgl. die jahrhundertelang geübte Praxis beim Druck von echten und gefälschten Geigenzetteln) ebenso aus wie der Sammeldruck Henricis, welcher (seit wann?) der Farlau-Kopie in Form einer undatierten Abschrift von Agricolas Hand beigegeben ist. Agricola war sich demnach der verschiedenen Fassungen bzw. Bearbeitungsstände des Werks stets bewusst.
Im Gegensatz zu anderen Passionsaufführungen (BWV 247) war der Aufführungsort hier eindeutig fixiert und konnte somit ausgedruckt bzw. ausgeschrieben werden, da BWV 244 aufführungspraktisch (Platzgründe; Doppelchörigkeit; evtl. separat aufgestellter Cantus firmus-Chor) nur in St. Thomas realisierbar war.
Die fehlende Endziffer könnte schließlich darauf hindeuten, dass es sich bei der Vorlage um ein Exemplar handelte, welches seit der Fertigstellung der Spätfassung 1736 wegen Fehlens der strukturell bedeutsamen Tausch-Komponente („O Mensch bewein“ etc.) unverkäuflich geworden war. Mögliche Konsequenzen aus diesem Befund für den Aufführungskalender zwischen 1730 und 1736 bleiben darauf hin zu prüfen, ob nicht 1734 eine Wiederaufführung in der unveränderten Form von 1729 geplant war.
Der an P 26 angebundene, von anderer Hand nach anderer Vorlage auf anderem Papier kopierte Schlusschor (BWV 244/68: „Wir setzen uns…“) steht - das ist bis auf Weiteres unbestritten - mit Agricolas Konstrukt in keinem Zusammenhang. Die buchbinderische Integration in den Band dürfte wohl auf den Handschriftensammler Georg Poelchau zurückgehen. Freilich stellt sich die Frage nach einem eventuellen Aufführungszweck dieses Satzes.
- Agricolas - örtlich und wohl auch zeitlich im nahen Umfeld der Entstehung und von ihm geleiteten Erstaufführung von C.H. Grauns Passionsoratorium „Der Tod Jesu“ in der Potsdamer Kirche St. Petri (vgl. Schwinger 2012) anzusiedelnde - Dokumentation des unfreiwillig unterbrochenen Entstehungsprozesses hätte die Wahrnehmung von Bachs Matthäus-Passion bereits ein Menschenleben vor ihrer Wiederaufführung durch Felix Mendelssohn Bartholdy vom Status einer theologisch und sprachlich nicht mehr auf der Höhe der Zeit befindlichen, bestenfalls nur lokal rezipierbaren Gebrauchsmusik (vgl. noch Otto 2007 mit der typischen Herablassung auch neuerer Germanisten: „musikalisches Kleinod … kontaminiert mit abgeschmacktem Wortmaterial…“) in den Rang eines zeitlosen musikalischen Kunstwerks heben können und wohl auch sollen, sofern dieser Ansatz über den engsten Zirkel Berliner Bach-Kenner (C.P.E. Bach, Kirnberger, Anna Amalia von Preußen, Marpurg und einige wenige Andere) hinaus bekannt geworden wäre. (Vgl. Schulze 1981; Wollny 2020).
Die Intention dieses Vorgangs im Rahmen einer „Sichtbarmachung der eigenen Historizität“ (Wollny 2009) ist vergleichbar mit der im selben Zeitraum von Agricola begleiteten Edition der (auch aus kaufmännischen Zwängen) als raffiniert ergänztem Torso konfektionierten Kunst der Fuge BWV 1080, seines (nach dessen eigenen Worten) mit C.P.E. Bach in Berlin „zusammengestoppelten“ Nekrologs, seinem Interesse an Sammlung und Herausgabe der Vierstimmigen Choralgesänge und seiner erst in jüngster Zeit thematisierten Erhebung Bachs in den Rang eines „Genies“ wie Isaac Newton (Vgl. Wolff 2007).
Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Agricola über längere Zeit fast täglich Gelegenheit hatte, jene klassischen Torsi auf sich wirken zu lassen, die sein Dienstherr Friedrich II. von Preußen 1742 mit der mehrere Hundert Objekte umfassenden Antikensammlung des französischen Kardinals Melchior de Polignac erworben hatte.
Ursprünglich recht kostengünstig beschafft und mit zwei Schiffen von Paris über Rouen und Hamburg nach Schloss Charlottenburg verfrachtet und dort deponiert, sodann in weitere der wachsenden Ausstattungsszenarien in Potsdam (Sans, Souci; Neues Palais; Marmorpalais) durchaus planmäßig eingebunden, enthält sie bis heute auch Torsi, die bereits damals bei näherem Blick mehr oder weniger raffinierte, mit naturidentischen, antikischen Marmormaterialien ausgeführte, aber stets sichtbare Ergänzungstechniken aus verschiedenen Zeitschichten erkennen ließen.
Um 1740 begann mit J.J .Winckelmann eine Entwicklung, die das „non finito“ schließlich (z.B. bei Auguste Rodin) nicht mehr als kaschierungsbedürftigen Makel, sondern als eigenständige künstlerische Aussageform betrachtete - und folglich die Ergänzungen eliminierte. (Vgl. Schleuning 1993; Dostern 2009)
- Die Entstehungsgeschichten des Anfang 1725 abgebrochenen Choralkantatenjahrgangs und der zur selben Zeit beiseite gelegten Erstfassung der Matthäus-Passion sind auf eine Weise verschränkt, die sich auch in der blockhaft wirkenden, von Eric Chafe (1982) tonartentheologisch gedeuteten Grobstruktur der von Agricola durch Einfügung exakt ermittelter Leerzeilen und (später von unbekannter Hand zum Teil wieder entnommenen) Blankobögen akribisch zum präsentierfähigen Torso gestalteten Passionsteile widerspiegelt.
Die Postlieferungen für beide Projekte durch kostensparende Sammelsendungen „per couvert“ je nach den terminlichen Erfordernissen der Drucklegungen für die jeweils fünf bis acht Aufführungen umfassenden Leipziger Libretti der Kantaten schlugen in außergewöhnlicher Weise auf die vorausgeplante Architektur der - zur Zeit ihrer Entstehung naturgemäß noch ungehefteten - Passionsfragmente durch.
Bach begann vielleicht schon um Trinitatis, spätestens aber im letzten Quartal 1724 mit der teils vollständigen, teils skizzenhaften Komposition unzusammenhängender Kerne (dramaturgisch zusammengehörige Szenen wäre zuviel gesagt) rund um die sukzessive, aber nicht immer der Chronologie des biblischen Narrativs folgenden, zusammen mit der zweiten Kantatenlieferung offenbar verzögert eintreffenden madrigalischen Texte, sicher auch in der Absicht, für die immense Arbeitslast auch Zeiten wie das Tempus clausum (nicht nur die Fastenzeit 1725, sondern auch bereits den 2. bis 4. Advent 1724) zu nutzen - und wohl auch schon die relativ gut planbare Abfolge der fast festlosen Wochen seit Trinitatis.
Die sechs madrigalischen Texte für die Passionssätze 1, 20, 39, 42 und für die Doppelsätze 27a/b und 56/57 lassen sich auf den ersten Blick als je eine Beigabe zu den mindestens sechs, wahrscheinlich eher sieben Briefsendungen seit dem Beginn des Kantatenprojekts vorstellen.
Dass auch Choräle berücksichtigt wurden und im Einzelfall auch kurze Platzhalter für - dann doch nicht mehr realisierte - Sätze („Aria“ bzw. Doppelsatz Nr. 22/23, mit der sich die Anzahl der postalischen Beilagen optimal passend auf sieben erhöhen würde) im Torso auftauchen, legt die Absprache eines Generalplans zwischen Autor und Komponist nahe.
- Die Choralbearbeitung „O Mensch bewein dein Sünde groß“ (BWV 244/29 alias 245 II/1) lag spätestens Ende Januar 1725 vor und war bis zu diesem Zeitpunkt als wesentliches Element der geplanten Matthäus-Passion vorgesehen. Da es sich um unveränderten Liedtext handelt, war sie nicht Bestandteil der vom Autor ausformulierten „Poesia“, sicherlich aber im Gesamtplan berücksichtigt und konnte von Bach somit zu einem beliebigen Zeitpunkt nach Beginn des Projekts in Angriff genommen - und in der Stunde der Not (Februar 1725) als Verfügungsmaterial verwendet werden.
Die bei der provisorischen Einschleusung in die vorzeitig wiederaufgeführte Johannes-Passion erforderliche Transposition (zunächst nur der Stimmen?) nach Es-Dur ermöglichte als Nebeneffekt eine elegantere Führung der Continuopartie, deren Oktavversetzungen (cis statt Cis; wegen fehlender Taste in der nachgewiesenen, zeitüblichen Kurzen Oktave auf der Thomaskirchen-Orgel) ursprünglich durch die aus der Großform von BWV 244 resultierende Tonart E-Dur erforderlich gewesen waren.
Als alternativer Erklärungsansatz wäre eine - von Dürr (zuletzt 1988) zur Diskussion gestellte Erstfassung in D-Dur denkbar, zumal das vorangehende Rezitativ im Torso P 26 aufgrund etlicher fehlender Schlusstakte und der nur extrem sparsam notierten Bass-Noten (f# … g# … f# - h …; Zielton in der Spätfassung: c#, ohne Bezifferung und mit leeren Oberstimmen; Antepenultima dort: E7) hinsichtlich der Zieltonart unbestimmt bleibt - freilich um den Preis eines Bruchs in der tonartlichen Symmetrie der Rahmensätze des ersten Teils der Passion.
Durch Umkehrung der bisher angenommenen Entstehungsreihenfolge wird somit auch eine von Arthur Mendel postulierte, in Weimar lokalisierte Frühfassung (Notname bis zum Erscheinen von BWV#3: BC D1 …) des Satzes obsolet. Vielmehr fügt sich dieser Chor durch seine - in der Fachliteratur nachhaltig bestätigte - kompositorische Reife, formale Opulenz und hymnologische / theologische Tendenz zwar notationstechnisch scheinbar korrumpiert, aber substanziell bruchlos in ein Gesamtprojekt „Choralkantaten und Matthäus-Passion“ ein.
- Bei Bestätigung der Annahme einer Entstehung und Vollendung der Frühfassung der Matthäus-Passion in zwei, in größerem zeitlichen Abstand aufeinander folgenden Etappen könnten sich alternative Antworten auf die bis heute nicht abschließend beantwortete Frage nach den Prioritäten der Parodiebeziehungen zur Köthener Trauermusik BWV 244a ergeben. (Vgl. zunächst Gojowy 1965; Brainard 1969; Schulze 2004; Braatz 2006).
Das beträfe gegebenenfalls auch den Zeitpunkt der Vervollständigung der fragmentarischen Teile von BWV 244b - und damit den Termin für die Uraufführung der Passion. 1727 ist durch eine von Rifkin (1975) aufgezeigte, allerdings nicht voll belastbare Spur in einer - ohne Textbezug überlieferten - Instrumentalstimme indiziert, die von der Forschung anfangs kritisch beurteilt (vgl. Dürr 1974; Schulze 2001), sodann weitgehend (zuletzt: Maul 2023) angenommen wurde, allerdings auch (vgl. Stauber 2020; Glöckner 2021) wiederum hinterfragt wird.
Unter diesem Aspekt wäre (entgegen Smend 1951) auch zu überlegen, ob und auf welche Weise der ungewöhnlich lange Zeitraum zwischen Entstehungsanlass (19.11.1728) und Aufführung (24.3.1729) der Trauermusik als Katalysator bei der Wiederaufnahme der Arbeiten an der Passion gewirkt haben könnte.
Anders gefragt: hatte das monatelange Zuwarten der Köthener Autoritäten auf einen Bestattungszeitpunkt drei Wochen vor dem Gründonnerstag / Karfreitag 1729 andere als lokale organisatorische Gründe? Wenn ja, diente dieses großzügige Zeitfenster vielleicht auch dazu, es Bach zu ermöglichen, nicht nur einfach eine (vielleicht schon 1727) erprobte Lösung mit flinker Hand zu adaptieren, sondern ein seit 1725 brachliegendes, fragmentarisches, einst existenziell wichtiges Großprojekt aufwändig wiederzubeleben?
Henricis Textentwurf lag zwar (laut Smend 1951 zwecks formaler Approbation) zeitnah in Köthen vor, allein es fehlte die Musik aus der Feder jenes Komponisten, der wusste, dass er erst sehr viel später (am Karfreitag 1729) eine oratorische Passion in St. Thomas, drei Wochen davor jedoch eine textlich teils divergierende, musikalisch und aufführungspraktisch aber durchaus kostenparend zweitverwertbare weitere Aufführung zu präsentieren hatte.
Weiter zugespitzt: Ist es vorstellbar, dass Bach die erheblichen Einkünfte (230 Rtlr. brutto; vgl. Heber 2017) aus den beiden Köthener Aufführungen (es erklangen am Abend der Beisetzung auch zwei, auf BWV 198 zurückgehende Sätze) gleichsam als Quersubventionierung genutzt hat, um sein 1725 vorläufig gescheitertes Passions-Projekt unter optimalen Bedingungen für Leipzig zu vollenden und zu präsentieren? (Vgl. Hofmann 1983)
Das Ganze wäre auch zu betrachten vor dem Hintergrund der anschwellenden Auseinandersetzungen mit seinen komplex organisierten Dienstherrschaften (Stadt; Landesherrschaft; Universität; Konsistorium; Ferne Fürsten) um eine halbwegs hinreichende Ausstattung des chronisch defizitären Leipziger Aufführungsapparts - also gleichsam als „demonstratio ad aures“ dessen, was er als Director Musices bei angemessener Subventionierung - verstärkt durch das im März 1729 übernommene Collegium musicum - zu leisten im Stande sein könnte. Und das übrigens in direkter zeitlicher und örtlicher Konkurrenz zur Aufführung einer - von einem bislang nicht ermittlten Komponisten vertonten - Brockes-Passion in der Leipziger Neukirche am Karfreitag 1729. Oder fanden diese beiden Passionsaufführugen mit Zeitversatz statt - womit weitere organisatorische Synergien (Mehrfachverwendung von Musikern) in den Bereich des Möglichen rücken würden? (Vgl. Glöckner 1990)
Für den Zusammenhang von Trauermusik und Passion ist anhand eines Schnittmengenmodells folgendes Schema denkbar: Den 1725 in Konzeptschrift vorliegenden Sätzen 20,39,57 wurden 1728/29 in den Vokalstimmen (und nur dort!) neue Texte unterlegt. Keiner, alle oder (am wahrscheinlichsten:) einige wenige der Sätze 6,8,13,23,49,65 lagen 1725 als unvertonte Texte vor, wurden 1728 von Henrici parodiert und von Bach mit Blick auf die Doppelverwendung vertont. Bei der verbleibenden Menge handelt es sich um komplette Neuschöpfungen, die bald darauf oder parallel dazu in die Passion übernommen wurden.
Dass ein aus diesem komplexen Procedere hervorgegangenes Partitur- bzw. Stimmenmaterial mit einer Mischung aus vorübergehend eingefügten Einlagestücken und Neuentwürfen, aus hin- und her- parodierten Textunterlegungen zur (Ur)aufführung der Passion 1729 nach einer Konsolidierung in Form einer klärenden Reinschrift verlangte (die dann später als Kopiervorlage für AmB. 6+7 dienen konnte), erscheint - etwa am Beispiel von Satz 20 mit seinen teils nur exemplarisch skizzierten Chorpartien - ebenso einleuchtend wie die anschließende Überflüssigkeit der Entwürfe und Umarbeitungen - die dann viel später (direkt durch Bach oder durch die Hand seines Sohnes Carl Philipp Emanuel?) als Memorabilien an Agricola gelangten.
Erklärungsbedürftig bleibt in diesem Zusammenhang auf jeden Fall der Umstand, dass Henrici in Satz 20 der Trauermusik BWV 244a ganz offenkundig drei Zeilen aus dem letzten Satz der am 6.2.1725 aufgeführten, als Einzeldruck in wohl vierstelliger Auflage lokal verteilten, aber erst 1738 als Sammeldruck überregional publizierten Trauerkantate für den als Textautor zur Diskussion stehenden Theologen in kaum verändertem Wortlaut plagiiert hat:
Ihr indessen, matte Glieder,
Bleibt in einer süssen Ruh!
Schliest euch sanfte, sanfte zu. („M.C.B.“ 1725/38)
Ihr erblaßten Fürsten=Glieder;
Bleibet nun in eurer Ruh,
Schließt uns auch die Thränen zu. (Henrici 1728/29)
14a. Nach dem Erscheinen von Andreas Glöckners Aufsatz „Johann Sebastian Bachs ‚Große Passion‘ - Neue Überlegungen zu ihrer Vorgeschichte“ (BJ 2021; Januar 2022 für Nichtmitglieder / April 2022 für Mitglieder der NBG) ergeben sich auch für die vorliegende These Nr. 13 weiterführende Ergänzungsmöglichkeiten. Ausgehend von der bisherigen Forschungslage (u.a. Gojowy 1965; Stauber 2020; jedoch ohne Brainard 1969 und Chafe 1982) hält Glöckner es aufgrund von Stilvergleichen zum Wort-Ton-Verhältnis mit der Trauermusik BWV 244a für nicht ausgeschlossen, dass es bereits 1727 (vgl. auch Rifkin 1975) eine aufführbare Fassung der Passion gegeben haben könnte, die zwar das biblische Narrativ vollständig umfasste, aber - und das ist die wesentliche Neubewertung - hinsichtlich der Anzahl der madrigalischen (kontemplativen) Texte als um einiges kürzer anzunehmen wäre als die seit 1729 bekannte Version.
Folgt man Glöckners durch seine weiteren Argumente gestützten Überlegungen, dann ergibt sich eine überraschende Antwort auf die alte Streitfrage nach der frühesten aufführbaren Fassung der Passion: „1727 oder 1729?“ - die lautet: „1727 und 1729!“
Diese Betrachtungsweise lässt sich wiederum fast bruchlos, gleichsam als „missing link“, in die zuvor ausgeführte These 13 zur Prioritätenfrage von BWV 244a und BWV 244b einfügen: Die 1728/29 erstellten Teile entstanden teils nicht nur unter Rückgriff auf das seinerzeit unaufführbare, da unvollständige und folglich ohne Stimmensätze vorhandene Material von 1725, sondern auch auf dasjenige von 1727, teils wurden sie genuin für eine Doppelverwendung konzipiert und realisiert. Die Frage nach Vorlage und Parodie wäre unter diesem Aspekt im Rahmen einer separten Untersuchung noch einmal Satz für Satz auszudifferenzieren - wobei selbst „Zweitparodien“ (vgl. Dürr 1974; Stauber 2020) nicht ausgeschlossen werden sollten. (Als ersten Zugriff vgl. These 14b.)
Die Ur- und Frühgeschichte von J.S. Bachs „Großer Passion“ könnte somit - weniger vorsichtig als von Glöckner formuliert - noch entscheidend komplexer beschrieben werden. Zum Beispiel so:
I. Trinitatis 1724 bis Ende Januar 1725: Sukzessive Vertonung jenes poetischen Materials, das vom „Dichter der Choralkantatentexte“ stückweise alle fünf bis acht Wochen per Post mitgeliefert wurde sowie der Choralbearbeitung „O Mensch bewein“ und einiger, inselartig kumulierter (Chafe 1982: Tonarten-theologisch strukturierter) sonstiger Sätze (Rezitative; Turbae; Choräle). Abbruch der Arbeiten an der Konzeptpartitur nach dem Tod des Dichters am 21.1.1725. Dieser Zustand wird von Agricola nach 1755 in seiner Handschrift P 26 unter Voranstellung eines (nach einem anderweitig nicht überlieferten Einzel-Textdrucks aus den frühen 1730er Jahren konstruierten) Titelblatts dokumentiert.
Vorzeitige Wiederaufführung der Johannes-Passion am Karfreitag 1725 als mehr als „…nur ein Notbehelf?“ (Leisinger 2002) unter Übernahme einiger Sätze aus BC D1, die möglicherweise ursprünglich textlich für BWV 244 bestimmt und eventuell sogar schon in Musik gesetzt waren. Noch bis zur Epiphaniaszeit muss Bach „…von der Aufführung einer Neukomposition am Karfreitag 1725 überzeugt gewesen“ sein - andernfalls hätte er das Stimmen-Material für BWV 245 nicht außer Haus verliehen (ebd.).
C. F. Henrici erhält (im zeitlichen Umfeld der Arbeiten an BWV 249/249a, also noch im ersten Quartal 1725) einen ersten Einblick in die Bach vorliegenden Texte, denn er paraphrasiert die von der Brockes-Passion und weiteren Oratorien inspirierte „Rache-Arie“ BWV 244b Satz 27b in der Schlüsselszene (V. Aufzug, „neunter“ - recte: „eilfter“ - Auftritt) seines Ende 1725 einzeln und Anfang 1726 an den (fingierten?) Erscheinungsorten Berlin/Frankfurt/Hamburg gesammelt publizierten Lustspiels „Der akademische Schlendrian“ in Form von subtil feinstrukturierter Bühnenprosa.
Akademischer Schlendrian V. Aufzug, 11. Szene.
Carolingen [nachdem sie erfahren musste, dass ihr studentischer Liebhaber sie betrogen, mutmaßlich geschwängert, auf jeden Fall aber verlassen hat]:
O! Du verfluchter und Meyneidiger Bösewicht;
Fahre, daß dir der Halß zerbreche!
Kommt ihr Furien aus der Hölle,
und zerreißet das ungetreue Herz!
Verfinstert euch ihr blauen Wolcken,
und ersäuffet die tyrannische Seele!
Brüllet ihr entsetzlichen Donner,
und zerschmettert das Marck in den Eydbrüchigen Gebeinen.
Eröffne, o Erde, deinen Schlund,
verschlinge den verhaßten Cörper eines solchen Unmenschens,
und verwandle ihn in die abscheulichste Pech- und Schwefels-Grube!
Du Tyger-Seele, du Unthier, Verräther, Betrüger!
(bricht in herzzerreißendes Schluchzen aus.)
BWV 244/27b:
Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?
Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle,
Zertrümmre, verderbe, verschlinge, zerschelle
Mit plötzlicher Wut..
Den falschen Verräter, das mördrische Blut!
Neben einem - genau diesen Satz betreffenden - musikalischen Selbstzitat Bachs in BWV 127 finden sich sprachliche Allusionen in Henricis Text für BWV 205 (zum 3.8.1725) und in seinen „Erbaulichen Gedancken“ von 1725, deren Inhalt und Publikationsgeschichte - nicht nur mangels öffentlich verfügbarem Digitalisat - seit Spitta 1873 bis vor kurzem nur unzureichend erforscht wurden.
II. Karfreitag 1727: Erste aufführbare Fassung der Matthäus-Passion auf der Basis der vervollständigten Fragmente von 1725 sowie provisorisch integrierter Versatzstücke aus BWV 245/BC D1; eventuell schon unter Mitwirkung von J.C. Birkmann. Ebenfalls als kreative Notlösung zu betrachten. Es lagen noch nicht alle heute aus BWV 244b bekannten madrigalischen Sätze vor, weshalb (und wegen des somit noch hohen Anteils an Fremdmaterial) Henrici auf einen Abdruck in seiner Gedichtsammlung zunächst verzichtet. Christoph Gottlob Wecker lernt das Werk akustisch in dieser formal einfacheren Fassung kennen - sicherlich aber nicht auch optisch in einer Papierform, deren mutmaßlich sehr heterogene Zusammensetzung für einen Außenstehenden kaum praktisch zu verwenden war - es sei denn, es gab bereits in diesem Stadium eine Neuschrift. Die Partitur könnte wohl eher aus einer partiellen Neuerfassung des vervollständigten biblischen Textgerüsts bestanden haben, in das die 1725 fertig vorhandenen großen madrigalischen Sätze und die Versatzstücke ideell und materiell eingefügt wurden.
Eine klare klassische Klassifizierung als Konzeptschrift oder Reinschrift verbietet sich unter diesen Annahmen. Die ungeklärte (scheinbar unklärbare) Frage nach dem vollständig verschollenen Stimmenmaterial der Frühfassung(en) ist unter diesen Umständen zwar nicht substanziell, möglicherweise aber systemisch erforschbar.
Zum Beispiel: War ein erstmals angefertigter Stimmensatz für ein „Provisorium 1727“ zwei Jahre später, (nach den Umarbeitungen für BWV 244a im März 1729,) am Karfreitag dieses Jahres, für BWV 244b noch einsatztauglich? Wenn nicht: erforderte ein neuer Stimmensatz unter diesen Umständen eine neue Partitur als Vorlage für die Kopisten? Oder ergab sich ein damals heilloser - heute philologisch unheilbarer - Mischbefund, wie er für BWV 245 leider typisch ist?
IIIa/b. November 1728 bis März/April 1729: Erweiterung und Konsolidierung der Fassung II synchron zu den Arbeiten an der Trauermusik BWV 244a (vgl. zuletzt Stauber 2020) unter Eliminierung der 1727 eingefügten Versatzstücke und deren Ersatz und Ergänzung nach Texten Henricis. Aufführung am Karfreitag 1729 mit den auch für und in Köthen eingesetzten (und aus den dort realisierten Einnahmen subventionierten?) Kräften, darunter das soeben übernommene Collegium Musicum, auf der Basis einer heute verschollenen Partiturneuschrift, die 1755ff als Vorlage für die Auftragskopie J.C. Farlaus dienen sollte.
Für die finale Umarbeitung des Aufführungsmaterials verblieben Bach immerhin noch drei Arbeitswochen im Tempus clausum (24. März bis 14. April) - sofern im calvinistischen Köthen nicht eine retardierte Rezeption der protestantischen Kalenderreform von 1700 praktiziert wurde.
Erster Abdruck des Textes in Henricis Gedichtsammlung zur Leipziger Ostermesse 1729, welche somit einen absolut aktuellen Sachstand wiedergibt. Christoph Gottlob Weckers Bitte um „Zusendung“ des Werks wird von Bach abschlägig beschieden, da er Partitur und Stimmen „heuer“ für seine eigene Aufführung benötigt.
Zu hinterfragen wäre, warum Wecker etwas anderes angenommen hatte. Vielleicht war er aufgrund der räumlichen und zeitlichen Entfernung nicht mehr auf dem aktuellen Informationsstand? Dem Argument einer Überforderung von Weckers Ensemble in Schweidnitz ist mit einem Hinweis auf jene Lösung zu entgegnen, die - freilich mit anderer Auswahl und Zielsetzung - für die legendäre Wiederaufführung 1829 gewählt wurde: eine ad hoc vorgenommene Streichung von Sätzen. Oder aber: durch Verweis auf das o.g. Postulat einer von ihm 1727 vor Ort erlebten, kürzeren, musizierpraktisch beherrschbarer erscheinenden Fassung II.
IV. 1736 Aufführung der bis heute in der Praxis ganz überwiegend verwendeten Spätfassung auf der Basis der autographen Partitur P 25 und der zugehörigen Stimmen St 110, deren Titel - nunmehr nach den Urheberrechts-Regeln der Zeit völlig zu Recht - mit der für Bachs Usus einzigartigen Formulierung „per Dominum Henrici alias Picander dictus“ den Verantwortlichen für die Fassung letzter Hand der „Poesia“ explizit nennt - und damit die Forschungsgeschichte hinsichtlich der Frühfassungen bis in die Jetztzeit scheinbar alternativlos präformieren sollte.
Ideelle Integration in einen neuerdings von diversen Autoren (vgl. z.B. Wolff 2020) als solchen erkannten „Christological Cycle“ - und möglicherweise auch Mittelpunkt einer Wiederaufführung des nachträglich teilweise ergänzten Choralkantaten-Jahrgangs?
14.b Serielle Synopse der auf madrigalische Texte komponierten Fassungen und Sätze der Matthäuspassion BWV 244
A. Fassungen
I. 1725: belegt durch Agricolas Torso P 26 und die daraus sonst (nach Farlau) nicht genuin erklärbaren, P 25 entsprechenden originalen Lesarten
II. 1727: hypothetisch wegen Parodiebeziehung zu IIIa/b, nach BC D1 und nach Rifkin 1975
IIIa. 1728: BWV 244a belegt durch Köthener Textüberlieferungen
IIIb. 1729: BWV 244b belegt durch Farlau Am.B 6+7 und Textdruck Henrici
Unveränderte Wiederaufführung 1734?
IV. 1736: BWV 244 belegt durch Autographe P 25 und St 110, Aufzeichnung des Thomas-Küsters Rost (DOK II/141) sowie das nachträgliche Titelblatt-Konstrukt in P 26
B. Entstehungsstadien der Einzelsätze:
(* = 1728/29 synchron entstanden)
Satz 1 Kommt ihr Töchter …
1725: Text und Musik vollständig
1727: wie 1725
1728: -
1729: wie 1727
1736: wie 1729
Satz 6 Buß und Reu …
1725: deest
1727: deest
1728: Weh und ach … Original* (Stauber; Glöckner; entgegen Brainard)
1729: Buß und Reu … Parodie* (Stauber; Glöckner; entgegen Brainard)
1736: wie 1729
Satz 8 Blute nur …
1725: deest
1727: deest
1728: Zage nur … Original* (Stauber; Glöckner)
1729: Blute nur … Parodie* (Stauber; Glöckner)
1736: wie 1729
Satz 13 Ich will dir …
1725: deest
1727: wie 1729? (anderfalls synchron entstanden)
1728: Hemme dein … Parodie (Brainard; Stauber; Glöckner; entgegen Gojowy)
1729: Ich will dir … Original (Brainard; Stauber; Glöckner; entgegen Gojowy)
1736: wie 1729
Satz 19 O Schmerz …
1725: deest
1727:
1728: -
1729: O Schmerz … (Blockflöten; vgl. Hofmann 2020)
1736: O Schmerz … (Blockflöten)
Satz 20 Ich will bei meinem …
1725: Solostimme vollständig; Chorpartie fragmentarisch (so in P 26!)
1727: Solostimme wie 1725 (entgegen Stauber); Chorpartie vervollständigt
1728: Geh Leopold … Parodie (Brainard: uneindeutig)
1729: wie 1727
1736: wie 1729
Satz 23 Gerne will ich …
1725: nur als Satzbezeichnung in P 26 („Aria“); deshalb: nur Text vorhanden?
1727: Musik nachkomponiert; (zzgl. Satz 22?)
1728: Wird auch gleich … Parodie (Brainard; Stauber; Glöckner; entgegen Gojowy)
1729: Gerne will ich … Original (Brainard; Stauber; Glöckner; entgegen Gojowy)
1736: wie 1727/29
Satz 27a/b So ist … / Sind Blitze sind Donner …
1725: Text und Musik vollständig; 1725/26: Profane Paraphrase von 27b in Henricis Lustspiel „Der akademische Schlendrian“ V/11
1727: wie 1725
1728: -
1729: wie 1727
1736: wie 1729
Satz 29 O Mensch bewein … (unmodifizierter Choraltext)
1725: Partitur in D- oder E-Dur?; Stimmen in Es-Dur als „Notlösung“ für BWV 245
1727: ersetzt durch Jesum lass ich nicht … (Text: Birkmann?)
1728: -
1729: wie 1727
1736: wie 1725; nun endültig in E-Dur
—
Satz 30 Ach nun ist mein Jesus …
1725: deest
1727: wie 1729?
1728: -
1729: Ach nun ist mein Jesus … Original (Glöckner)
1736: wie 1729
Satz 35 Geduld, wenn mich …
1725: deest
1727: wie 1729?
1728 -
1729: Geduld, wenn mich …
1736: wie 1729 (musikalisch umgearbeitet)
Satz 39 Erbarme dich …
1725: Text und Musik vollständig
1727: wie 1725
1728: Erhalte mich … Parodie (Brainard; Glöckner)
1729: wie 1727
1736: wie 1729
Satz 42 Gebt mir meinen …
1725: Text und Musik vollständig
1727: wie 1725
1728: -
1729: wie 1727
1736: wie 1729 (umgearbeitet)
Satz 49 Aus Liebe …
1725: deest
1727: wie 1729??
1728: Mit Freuden … Original (Stauber; Glöckner; entgegen Brainard)
1729: Aus Liebe … Parodie (Stauber; Glöckner; entgegen Brainard)
1736: wie 1729
Satz 52 Können Tränen …
1725: in P 26 deest; evtl. schon wie 1727?
1727: Ach windet euch nicht so … (Text: Birkmann?)
1728: -
1729: Können Tränen …
1736: wie 1729
Satz 56 Ja freilich will in uns …
1725: Text und Musik vollständig
1727: wie 1725
1728 : -
1729: wie 1727
1736: wie 1729
Satz 57 Komm süßes Kreuz …
1725: Text und Musik vollständig
1727: wie 1725
1728: Laß Leopold … Parodie (Gojowy; Stauber; Glöckner: uneindeutig)
1729: wie 1727
1736: wie 1736
Satz 60 Sehet Jesus hat …
1725: in P 26 deest; evtl. schon wie 1727
1727: Himmel reiße … aus BC D1,2; mit nachkomponierten Bläserstimmen (Leisinger 2002)?
1728: -
1729: Sehet Jesus hat …
1736: wie 1729
Satz 65 Mache dich …
1725: deest
1727: durch zwei versehentlich notierte Takte in einer andernorts überlieferten Instrumentalstimme vermutbar (Rifkin)
1728: Bleibet nur … Original (Gojowy; Stauber; Glöckner; entgegen Brainard)
1729: Mache dich … Parodie (Gojowy, Stauber, Glöcker; entgegen Brainard)
1736: wie 1729
Satz 68 Wir setzen uns …
1725: deest (aus anderer Quelle um 1800 an P 26 assoziiert)
1727: BWV 245/40 alias BWV 23/4 (Christe du Lamm Gottes)?
1728: Die Augen sehn … Original* (Stauber; Glöckner; entgegen Brainard)
1729: Wir setzen uns … Parodie* (Stauber; Glöckner; entgegen Brainard)
1736: wie 1729
- Mit der - durch eine starke „individualeschatologische Komponente“ (vgl. Petzoldt 2004) und durch ein für Bachs Erfindungsweise selten eindeutiges musikalisches Zitat aus BWV 244b/27b geprägten - Kantate BWV 127 (zum 11.2.1725) auf den traditionsreichsten protestantischen Sterbechoral „Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott“ schuf Bach eine subtile Würdigung des Textautors des Choralkantatenjahrgangs und der Matthäus-Passion - komponiert in derselben Woche (möglicherweise an demselben Tag, dem 6.2.1725), an dem dieser in seiner Predigtstätte unter einem Totengeläut zu Grabe getragen wurde, dessen heute noch erlebbarer Klang Bach aus sehr früher Hörerfahrung bekannt war.
Während des Entstehungsvorgangs mutierte die Kantate BWV 127 von einer privaten, distanzübergreifenden Sterbebegleitung zum öffentlichen musikalischen Epitaph.
Dazu passt, dass in einem für den Wirkungsort des Autors verbindlichen Gesangbuch eine Variante des Chorals „Herr Jesu Christ …“ abgedruckt ist, die für den Fall, dass der Sterbende den Text nicht mehr selbst bewältigen konnte, den „Umstehenden“ zum stellvertretenden Singen oder Beten in Herz und Mund gelegt wurde.
In demselben Gesangbuch gibt es wenige Ordnungsnummern weiter eine Paraphrase auf „Herr Jesu Christ…“, in welcher auffällige Entsprechungen zu BWV 127/2 enthalten sind, die im originalen Choraltext fehlen.
In etlichen weiteren Choralkantaten - nicht nur vom Januar 1725 - finden sich explizite Aussagen (keineswegs nur Subtexte), die sich - bei Kenntnis der Hintergründe - als Auseinandersetzungen des Autors mir seiner aktuellen, durch eine chronische Krankheit geprägten Situation deuten lassen.
- Die - erst anhand der seit 2018 verfügbaren Faksimile-Edition zweifelsfrei entzifferbare - Invocationsformel „J.N.D.N.J.C.“ (auf den ersten Blick vielleicht nur das Votum Justinianum: „In Nomine Domini Nostri Jesu Christi“) im eigenhändigen Kopftitel der Kantate BWV 20 (dem Auftaktwerk des Jahrgangs 1724/25) stellt - mit ihrer scheinbar einzigartigen Prolongation von Bachs vor- und nachher ca. 100 mal nachweisbaren Standardformel „J. J.“ (neutestamentlich: „Jesu Juva“ - alttestamentlich: „Jehova Juva“; auch: „Jove Juva“) - ein Bekenntnis des Komponisten zu seinem damaligen Textdichter dar, enthält sie doch als Rahmenbestandtteile dessen Initialen (Nachname vorangestellt) - zumal eine zeitübliche orthographische Inkonsequenz (J vor einem Vokal statt I vor einem Konsonanten) zugunsten der Eindeutigkeit dieser Namensandeutung in Kauf genommen wird.
<https://www.perplexity.ai/search/wie-lautet-das-7HeVggkYQgu.o381gmRplQ#0>
Die Umstellung der Reihenfolge (Nachname, „N“, „D“, „N“, Vorname, Vorname) korrespondiert mit der, an bislang ungezählten Beispielen aus dem Kantaten-Corpus belegbaren, Neigung des Autors zu „Syntaktischen Diskontinuitäten“ - einem Begriff aus der strukturalistischen Linguistik, welcher die kreative, formverändernde, aber sinnerhaltende) „syntaktische Verschiebung“ von Elementen beschreibt - hier auf Wortanfänge einer - im Kern genitivischen („Domini“) - Abkürzung angewendet statt auf Satzbestandteile eines regelpoetischen, Alexandriner-kompatiblen Konstrukts. (Beliebiges Beispiel aus BWV 133/5: „des Todes Furcht und Schmerz“ statt „Furcht und Schmerz des Todes.“ Exzessiv verwendet u.a. in BWV 99.) Oder nach den Regeln der Zeit: ein klassisches Anagramm.
Das Herzstück „N.D.N.“ bildet dabei mit der sicherlich aus Deuteronomium 25,7 als solitärer biblischer Konkordanz entnommenen Bitte: „ut [N]on [D]eleatur [N]omen eius ex Israel“ (Luther: „daß sein Name nicht getilgt werde“; King James: „that his name be not put out“) einen sehr aktuell wirkenden „Copyright-Vermerk“ - entsprechend der „BY“-Komponente heutiger Creative Commons Lizenzen.
Die Stelle aus dem Vorschriftenkatalog des 5. Buches Mose dürfte Bibelkennern aufgrund der darin definierten, auch heute noch anrüchig wirkenden sozialen Normen („et suscitabit semen fratris sui“; sowie auch Vers 9) als buchstäblich merk-würdig gegolten haben, was den Autor vielleicht zu der Hoffnung auf eine langfristige Memorierbarkeit dieser Formulierung verleitet hat (vgl. Assmann 1991). Letzteres ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die herrschende soziale Schicht der Dienstherren des Autors noch zu seinen Lebzeiten von einem beschleunigten Aussterben jahrhundertelang blühender Geschlechternamen bestimmt war - wie es in dem von einem seiner kirchenmusikalischen Mitarbeiter erarbeiteten genealogischen Tafelwerk dokumentiert ist.
Das „Nostri“ in der traditionellen Deutung dieser Formulierung mag zudem als Indiz dafür gelten, dass sich Dichter und Komponist des gemeinschaftlichen Charakters ihrer Aufgabe bewusst waren oder zumindest werden sollten, denn der Autor, (auf den diese Buchstabenkombination sicherlich zurückgeht,) verwendet hiermit auch eine Allusion an das explizit distanzübergreifende Präskript aus dem 1. Korintherbrief des Apostels Paulus, um sich und seine fernen Kooperationspartner (Bach und die beteiligten Prediger; vielleicht auch die Musizierenden und die Hörerschaft) in den Dienst an der Anrufung einer höheren Instanz einzubeziehen:
„ … cum omnibus qui [I]nvocant [N]omen [D]omini [N]ostri [J]esu [C]hristi in omni loco ipsorum et nostro“ (Vulgata);
„ … samt allen denen, die anrufen den Namen unsers Herrn Jesu Christi an allen ihren und unsern Orten“ (Luther);
„… to them that are sanctified in Christ Jesus, called to be saints, with all that in every place call upon the name of Jesus Christ our Lord, both theirs and ours“ (King James Bible).
Dass auch dem ersten Band der Farlau-Abschrift (D-B AmB. 6) - dem einzigen bisher anerkannten Überlieferungsträger der Frühfassung der Matthäus-Passion - genau diese Formel vorangestellt ist, mag als weiter Beleg für die Gleichzeitigkeit der Entstehungsprozesse von Choralkantaten und Passion betrachtet werden. Ein von dem - bereits an dieser Stelle überforderten - Kopisten spontan, aber durchaus elegant korrigierter Schreibfehler (D.J. -> D.N.) ist als Indiz dafür zu werten, dass diese spezielle Invocatio bereits in der - als autograph zu unterstellenden - Vorlage vorhanden war.
Band II dieser Abschrift (D-B AmB. 7) beginnt hingegen mit dem allenthalben bekannten „J.J.“ - in knappest möglicher Notation zum Auftakt des Kopftitels.
Bemerkt zu werden verdient auch die Tatsache, dass die Abschrift einer zwischen 1705 und 1715 entstandenen Michaelisfest-Kantate eines mit Bach befreundeten Komponisten, dem der Autor fast drei Jahrzehnte lang täglich begegnete und mit dem er ein Dezennium lang sehr eng zusammenarbeitete, im Kopftitel verzeichnet: „J.N.D.N.J.C.A.“ - also die oben genannte Formel, vermehrt um ein „Amen“ und somit rekombinierbar als: „… Non Deleatur Nomen … Auctoris“. Eine an entlegener Stelle überlieferte Motette dieses Komponisten beginnt mit der - nota bene ausgeschriebenen - Anrufung „Jehova Juva!“ - ebenso wie ein weiteres, 1734 kopiertes Werk ähnlichen Typs.
Es ist - aufgrund von Parallelbeispielen (also ähnlich eindeutiger, buchstabengetreu auflösbarer Synthesen von Titulus-artigem Monogramm und Invocatio) auf den Frontseiten akademischer Druckschriften des Autors:
[J]esu [C]hristo [J]uvante
und seines akademischen Lehrers:
[J]esu [G]ratia [M]oderante
bzw.
[I]n [G]loriam [M]ediatoris -
in hohem Maße wahrscheinlich, dass Bach bei der Verwendung dieser Formel Vorgefundenes aus dessen Manuskripten zitierte. Zu erwähnen ist ferner, dass das auffälligste dieser Beispiele, der Druck der Magisterdisputation des Autors, mit [J]esu [C]hristo [J]uvante“ beginnt und mit dem auch von Bach verwendeten [S]oli [D]eo [G]loria endet.
Es ist einer Überlegung wert, ob nicht „J.C.J.“ Vorbild für Bachs seit seiner Mühlhausener Ratswechselkante BWV 71 nachweisbare Formel „J.J.“ darstellen könnte. (Ausnahme: BWV 16 zum Auftakt der Kalenderjahres 1726, wo es heißt: „J.N.J.A.“; Vgl. Braatz 2007b.) In diesem Zusammenhang bleibt zu eruieren, ob überhaupt eine wörtliche Auflösung des Kürzels als „Jesu Juva“ aus der Hand Bachs existiert, dessen Dienst als Kantor 27 Jahre lang mit einer (gegen Honorarzahlung abgegebenen) Lehrverpflichtung für Lateinunterricht verbunden war. Andernfalls blieben - neben der alttestamentlichen Variante „Jehova Juva“ die Interpretationen als „Jesu Juvante“ als gleichberechtigte sowie „Jesus Immanuel“ als ebenfalls im Umfeld des Autors belegbare, aber weniger wahrscheinliche Alternativen.
Nicht unerwähnt soll der Umstand bleiben, dass Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521 im Anschluss an sein „Revocare non posse“ laut Protokoll eine zwar anders formulierte, aber inhaltlich fast gleiche, von späteren Historiographen unsäglich überhöhte, auf Ps. 53(54),6 und dessen Einfluss auf den Gregorianischen Choral (9. Sonntag nach Pfingsten) zurückgehende, von verschiedenen Komponisten (zumeist als „adjuvat“) vertonte, in dieser speziellen Form überlieferte Bekräftigung anfügte: „Deus adjuvet me.“ Oder nach den Worten des Ohrenzeugen Konrad Peutinger „Got kum mir zu hilf.“
Die Anregung zu dieser Verwendung und Umdeutung des - zwischen 1650 und 1750 durch Juristen und Theologen (vgl. Erler 3/1909, XVII) - fast in Form heutiger „Sprayer-Tags“ (z.B. in der von einem Kommilitonen des Autors 1692 zu I. N. J. C. individualisierten Variante) - benutzten Votum Justinianum lässt sich durch zwei Umstände erhellen.
Zum einen korrespondiert sie teilweise mit der abgekürzten Form des - auf dem Titelblatt des Spätautographs in Latein verfassten - Titels:
Passio [D]omini [N]ostri [J]esu [C]hristi.
Zum anderen hatte der Autor Gelegenheit mitzuerleben, wie eine lebensgroße Skulptur des bekanntesten Verwenders dieser Anrufung (der spätantike Kaiser Justinian) an der Fassade eines kommunalen Repräsentationsbaus in seinem unmittelbarn Lebensumfeld errichtet wurde.
Spätes, schwaches Nachwehen dieser eigentümlichen Praxis ist die - für Bachs wortgebundenes Werk gleichfalls singuläre - zwar gelehrtensprachliche, aber ungewöhnliche und unverschleierte Nennung „Poesia per Dominum Henrici alias Picander dictus“ als genialem Vollender und Verantwortlichem für die Textfassung zweiter bzw. letzter Hand der Matthäus-Passion, die für den Komponisten, dessen Aufführungshelfer und auch dessen Erben nicht zuletzt auch einen praktischen Nutzen besaß zur Unterscheidung der Manuskripte bei der Handhabung der Notenbibliothek.
Ob den an der Vorbereitung bzw. Vollendung des Werks Beteiligten bewußt war, dass der Platzhalter für den Schluss des ersten Teils der Matthäus-Passion BWV 244b, (anstelle von „O Mensch bewein…“), die letzte Strophe des Chorals „Meinen Jesum lass ich nicht“, den Namen desjenigen luthertreuen Prominenten in Form eines Akrostichons abbildet, dessen auf dem Sterbebett geäußerter Bekenntnissatz den Kern dieses Liedes darstellt?
[J]ohann [Ge]org [Ch]urfürst [zu] [S]achsen und Markgraf von [Mei]ssen
[J]esus lass ich nicht von mir,
[Ge]h ihm ewig an der Seiten;
[Ch]ristus lässt mich für und für
[zu] dem Lebensbächlein leiten.
[S]elig, wer mit mir so spricht:
[Mei]nen Jesus lass ich nicht.
Ein ergänzender Beleg für eine Verwendung der eingangs diskutierten Invocation in ihrer usprünglichen Fassung findet sich übgrigens in einer 108-seitigen Festschrift zur Ehren der Ernennung von Bachs Leipziger Dichterin Christiane Mariane von Ziegler zur Kaiserlich Gekrönten Poetin durch die Universität Wittenberg (Lamprecht 1734). Der erste Gratulant (Johann Gottlieb Kraus(e), 1723-27 a.o. Prof. für Rhetorik in Leipzig und - zusammen mit J.B. Mencke - ein früher Wissenschaftspublizist), lässt auf dem Titelblatt der lateinischen Version seines Textes die Buchstabenfolge drucken: I.N.D.N.J.C. In der folgenden deutschen Übersetzung findet sich (in Frakturbuchstaben) „J.N.U.H.J.C.“ - in diesem Kontext kaum anders zu lesen als [I]m [N]amen [U]nseres [H]errn [J]esu [C]hristi.
Das bekannteste Beispiel der Verwendung von Buchstabenspielen bei Bach selbst (der dieses Prinzip vielleicht schon aus dem Akrostichon in der sehr frühen Kantate BWV 150 („Doctor … Meckbach“), spätestens aber seit seiner Vertonung der 2004 zutage getretenen Strophenarie BWV 1127 im Jahr 1713 kannte; vgl. Schulze 2021; Maul 2005) findet sich bald vor Ende seines Lebens im RICERCAR des Musikalischen Opfers BWV 1077 für Friedrich II. von Preußen, im Beisein von C.E.P. Bach, W.F. Bach (und wohl auch J.F. Agricola) in Potsdam zunächst dreistimmig extemporiert, später sechsstimmig neu ausgearbeitet, in teurem Kupfer gestochen und nachträglich (durch eigens gedruckte und eingeklebte Zettel) mit dieser Bedeutungserklärung und Sinnerhöhung versehen:
[R]egis [I]ussu [C]antio [E]t [R]eliqua [C]anonica [A]rte [R]esoluta
Welcher, um den Urgrund derartiger Kryptophilie wissende, (späte Leipziger, frühe Potsdamer) Ideengeber hier vielleicht Pate stand, wird wohl auf immer im Bereich der Spekulation bleiben. (Vgl. Wolff 1967)
Das in diesem Zusammenhang vielleicht überzeugendste, wenig später entstandene Beispiel eines hochkomplexen Akrostichons durch Bach selbst stellt schließlich der - durch die Hand J.P. Kirnbergers überlieferte - Eintrag des siebenstimmigen Kanons BWV 1078 im Stammbuchblatt für den Leipziger Medizinstudenten Benjamin Gottlieb Faber vom 1. März 1749 dar. (Vgl. Smend 1966; Schulze 1967; Tatlow 2015; Mika 2019.) Hier wird nicht nur der Nachname des Widmungsempfängers zunächst durch Tonbuchstaben und eine Wiederholungsanweisung über dem Noteneintrag angedeutet:
[F] [A] [B] [E] [R]epetatur
und noch einmal in der Zueignung bekräftigt:
[F]idelio [A]mici [B]eatum [E]sse [R]ecordari
Auch der Urheber des Eintrags und Komponist dieser kontrapunktischen Spezerei gibt sich ausschließlich in obfuszierter Form zu erkennen:
Zunächst solmisationstechnisch:
Fa=[B], Mi=[A], Fa=[C], Mi=[H]
und sodann literal:
[B]onae [A]rtis [C]ultorem [H]abeas verum am[I]cum [T]uum
zu lesen als:
[B][A][C][H] [I]senacum-[T]uringum.
- FINIS! ENDE!! Des freuen sich die Hände.
(Aus einer norddeutschen Orgelhandschrift.)
Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. (Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker, 1961)